Donnerstag, 6. April 2017

Das Thema ist noch lange nicht erledigt



Eindrücke und Ergebnisse der 9. Ideen- & Planungswerkstatt

Unter dem Motto Stufen, Kanten, Stolperfallen hatte MARTINIerLEBEN am 1. April zu einer Ideen- & Planungswerkstatt eingeladen, bei der die barrierefreie Teilhabe für alle Menschen im Fokus stand.

Neben einer Podiumsdiskussion mit Fachleuten aus Politik und Verbänden, wurden in diesem Zusammenhang die Erfolge der AG barrierefrei und der Stadtteilführer Eppendorf hürdenlos vorgestellt.
Klaus Kolb
Doch zunächst hatte Klaus Kolb, Geschäftsführer vom Kulturhaus Eppendorf und Gründungsmitglied von MARTINIerLEBEN, die Veranstaltung eröffnet. Er erinnerte an den Um- und Ausbau des Quartiers, der vor über neun Jahren begann. Einerseits war die Schließung des Krankenhauses Bethanien ein Thema, andererseits die „wertvoll Perle Wohnstifte“ in denen über 600, meist ältere Menschen wohnen, darunter viele Rollstuhlfahrer*innen. „In unserem Quartier werden beispielhaft Lösungen für barrierefreie Situationen gesucht“, sagte Kolb, „eine altersgerechte Stadt sollte von uns mitgestaltet werden.“
Elisabeth Kammer von MARTINIerLEBEN gab anschließend einen Rückblick auf acht Jahre „AG Barrierefrei“. Sie erinnerte an eine ganze Reihe erfolgreich umgesetzter Maßnahmen:

  •  den für Rollstuhlfahrende abgesenkten Briefkasten
  •   die Umgestaltung des Platzes Ecke Schede- und Frickestraße – mit zwei seniorengerechten Bänken „Louise“
  • den Austausch von Rhein- und Kopfsteinpflaster in ebene Gehwegplatten bei 13 Einfahrten
  • Schaffung eines Fahrradweges durch die Asphaltierung der Sackgasse Frickestraße zwischen Breitenfelder- und Martini-Straße
Um die Verbesserungen zu erreichen, mussten oft viele Telefonate und Gespräche geführt werden. Auch Besuche und Eingaben beim Regionalausschuss gehörten dazu. Was dazu führte, dass 2011 das Gebiet um das ehemaligen Krankenhaus Bethanien („Dreieck“ zwischen der Fricke-, Schede-, Tarpenbek- und Martinistraße) vom Regionalausschuss als Musterquartier ausgezeichnet wurde.

Der druckfrische Stadtteilplan ist da!
Daraufhin stellten Pastor Uli Thomas von St. Martinus und die Projektleiterin Elisabeth Kammer den gemeinsam erarbeiteten Barrierefreien Stadteilführer „Eppendorf hürdenlos“ dem Publikum vor. Damit geht ein generationsübergreifendes Projekt nach gut einem Jahr zu Ende, an dem sowohl (ehemalige) Konfirmand*innen von St. Martinus als auch Rollstuhlfahrer*innen aus der Nachbarschaft (u.a. Zinnendorf Stiftung) mitgewirkt hatten. Rund 160 Anlaufadressen sind in dem großen Faltblatt gleich doppelt erfasst: als farbige Punkte auf einer Straßenkarte sowie als Eintrag im Text. Dabei wurden sowohl die Kontaktdaten der Geschäfte und Einrichtungen als auch Faktoren wie Fahrstuhl oder Rolli-Toilette dokumentiert. „Es war ein pädagogischer Selbstversuch“, erklärte Pastor Uli Thomas. Denn gesunde Jugendliche übten sich nicht nur als Rollstuhlfahrende, sie erlebten auch, wie sie an 2 cm hohen Kanten, an kurzen Ampelphasen, an Stufen vor Hauseingängen scheiterten. Uli Thomas: „Das war für alle Beteiligten eine interessante Erfahrung.“ Nach der Erfassung der Daten verbrachten die Projektleiterin und die Grafikerin Anja Escherich viele Stunden damit, die Daten aufzuarbeiten und zu Papier zu bringen.
Die Arbeit von MARTINIerLEBEN ist sicher beispielhaft auch für andere Stadtteile. Denn das Thema Barrierefreiheit ist noch lange nicht erledigt. Zugeparkte Wege, zu kurze Ampelschaltungen oder erschwerende Stufen und Treppen –  Handlungsbedarf besteht an vielen Stellen. Auch in Eppendorf, zum Beispiel:
  • die DHL-Station in der Eppendorfer Landstraße ist nur über eine Stufe erreichbar
  • den Fußweg in der Frickestraße verbreitern durch halbachsiges Parken 
  • die Ampelschaltung Schottmüller-/Breitenfelder Straße – Autos blockieren den Fußgängerweg, wenn diese auf Grün wechselt
  • das Holthusen-Bad ist nur über zehn Stufen erreichbar
In der darauffolgenden Podiumsdiskussion äußerten sich die Diskutanten über ihre Erfahrungen und ihren persönlichen Zugang zum Thema Barrierefreiheit.


So berichtete Sina Imhof (Vorsitzende des Regionalausschusses DIE GRÜNEN in Eppendorf/Winterhude) von ihren Erfahrungen, sich mit dem Kinderwagen im Hauptbahnhof zurecht zu finden, trotz Nutzung mehrere Fahrstühle. Frau Imhof berichtet außerdem von der Aggression, die ihr teilweise entgegenschlägt, wenn sie Falschparker auf Behindertenparkplätzen auf ihr Fehlverhalten anspricht. Sina Imhof wünscht sich, dass in der Politik die Belange der Behinderten grundsätzlich berücksichtigt werden. Erfolge der letzten Jahre sieht sie z.B. in der Absenkung der Bürgersteige. „Teilhabe ist keine Gnade und von dem Wohlwollen anderer abhängig, sondern ein Menschenrecht“, betont die Juristin.

Johannes Köhn (Geschäftsführer der Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen – LAG) freut sich, dass er und seine Mitstreiter*innen bei der Hochbahn Erfolge erzielen konnten: seit 2011 werden alle Haltepunkte nach und nach barrierefrei ausgebaut. In fünf Jahren sollen alle Stationen einen Fahrstuhl haben. Er betont, dass nur 5% der Menschen mit Einschränkungen mit einer Behinderung geboren werden. 95% werden erst im Laufe ihres Lebens beeinträchtigt. Er weiß, dass Inklusion nicht umsonst zu haben ist, aber wenn die Barrierefreiheit einmal eingeführt würde, profitierten alle davon. Johannes Köhn hofft, dass in den Köpfen von Planer*innen etwas passiert. Sie sollten nicht erst ein Haus bauen und dann Barrierefreiheit aufsatteln. „Inklusives Design“ ist die Zauberformel.


Ingrid Körner (Senatskoordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen) stört es, dass selbst bei Umbauten öffentlicher Gebäude Barrierefreiheit häufig eine untergeordnete Rolle spielt. Es wird zwar mehr für die Barrierefreiheit getan als früher, doch fällt es insbesondere Planer*innen und Architekt*innen schwer, die Belange der Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen in ihre Entwürfe einzubeziehen. „Die Haltung ist oft eine starke Barriere“, betont Körner. „Doch leider wird sie nicht so schnell verändert, wenn kein Druck da ist.“ Noch ist es so, dass private Träger*innen beim (Um-)Bau eines Hauses nicht an Auflagen bezüglich Barrierefreiheit gebunden sind. Außerdem wäre ihr wichtig, dass Behörden in Zukunft statt einem unverständlichen Amtsdeutsch eine einfache Sprache benutzen, damit alle Adressat*innen die Botschaft besser verstehen.
Frau Körner war von dem Stadtteilführer und davon, was MARTINIerLEBEN in Bezug auf Barrierefreiheit für dieses Quartier bereits getan hat, so sehr begeistert, dass sie den Verein für die Auszeichnung „Wegbereiter der Inklusion“ vorschlagen möchte.

... barrierefrei? Da ist noch Luft nach oben!
Heike Wandke, Rollstuhlfahrerin aus Eppendorf und aktives Mitglied bei MARTINIerLEBEN, appelliert an alle, sich einzumischen, wenn Autos fälschlicherweise den Behindertenparkplatz blockieren. Auch möchte sie nicht jedes Mal als Bittstellerin erscheinen und schiefe Blicke ernten, wenn sie in den Bus einsteigen möchte. Selbst bei dieser Veranstaltung, wo es doch um Barrierefreiheit geht, kann sie die Stufen zum Podium nicht ohne Hilfe überwinden, weil keine Rampe angebracht wurde. Heike Wandke freut sich, wenn ihr im Alltag Hilfe angeboten wird. Sie hofft jedoch, dass die hilfsbereiten Mitbürger*innen sich nicht vor den Kopf gestoßen fühlen, wenn sie im Einzelfall dankend ablehnt. Ihr Wunsch wäre es, nicht mehr nachdenken zu müssen, bevor sie etwas unternehmen möchte, sondern einfach losgehen oder losrollen zu können, ohne erst recherchieren zu müssen, ob etwas barrierefrei zugänglich ist. Denn das gehört zu einem selbstbestimmten Leben dazu.

Zum Schluss wurden Anmerkungen oder Anregungen aus dem Publikum aufgenommen und diskutiert. Eine Teilnehmende meinte, dass auch dieses Mal bei der Barrierefreiheit nur Mobilitätseingeschränkte gemeint wären und Menschen mit kognitiven Einschränkungen, die akustische oder visuelle Hilfestellungen bräuchten, nicht berücksichtigt wären. Andere Anregungen waren:
  •  Behindertentoiletten – sie sind für Rollstuhlfahrende oft viel zu eng
  • Der Fahrstuhl am Marie-Jonas-Platz sollte für Behinderte nutzbar sein, um auf den Gehweg zu kommen 
  • Eine öffentliche Toilette für den Eppendorfer Park 
  •  Längere Ampelschaltungen
  • Türen im Kundenzentrum Hamburg-Nord öffnen sich nicht mehr automatisch: Knöpfe sind da, funktionieren aber nicht
  • Der große Saal des Bezirksamtes hat jetzt auch eine Induktionsanlage (für Hörgeschädigte), ohne dass das bisher kommuniziert wurde

Letztendlich sei es eine Frage des Menschenbildes, meinte eine Besucherin, ob ich es normal finde, verschieden zu sein oder nicht. Alle Teilnehmenden waren sich einig, dass Hamburg eine barrierefreie Stadt werden soll. Doch bis es soweit ist, muss noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden, denn Barrierefreiheit beginnt in den Köpfen.

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